Soziale Arbeit als koloniales Wissensarchiv? (2023-2026)

Ein Geschichtslabor zum (post-)kolonialen Erbe Sozialer Arbeit als Modell historiographischer Lehrforschung (2023-2026)

Die Entstehung der modernen Sozialen Arbeit als Beruf fiel mit der Zeit der formalen Kolonialherrschaft Deutschlands zusammen. 1893, also nur kurz nachdem die europäischen Kolonialmächte unter Leitung des Reichskanzlers Bismarck den afrikanischen Kontinent unter sich aufgeteilt hatten und das Deutsche Reich zur drittgrößten Kolonialmacht geworden war, wurden aus dem radikalen Flügel der Berliner Frauenbewegung heraus die Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit gegründet. Aus diesem Zusammenschluss gingen etliche Organisationen und auch Methoden der professionellen Sozialen Arbeit hervor, die teilweise bis heute fortbestehen bzw. noch heute von Bedeutung sind. Prominent zu nennen ist hier Alice Salomons „Soziale Frauenschule“, die heutige Alice Salomon Hochschule Berlin. Viele Protagonist*innen in der „ersten Riege“ der Sozialen Arbeit waren zugleich auch in der kolonialen Bewegung aktiv und stellten Verbindungen zwischen den sozialen Initiativen der Frauenbewegung und kolonialen Organisationen her.

Die unterschiedlichen Formen der Beteiligung Sozialer Arbeit an der Umsetzung kolonialer Herrschaft sind bisher noch nicht systematisch erforscht. Diese zu untersuchen kann – neben einem fachhistorischen Ertrag – wichtige Antworten auf die Frage geben, ob die Soziale Arbeit – wie es die ehemalige ASH-Rektorin Christine Labonté-Roset anlässlich der Auseinandersetzung mit der Beteiligung Sozialer Arbeit an der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik einmal formulierte – „Momente hat, die ihre Inanspruchnahme als Repressions- und Selektionsapparat ermöglichten“ (Labonté-Roset 1988). Denn die koloniale Zuspitzung der von der Frauenbewegung entfalteten Idee von Sozialer Arbeit als „Kulturarbeit“ wirkte nicht nur in den Kolonien als Herrschaftsinstrument, sondern auch in den Metropolen selbst. So finden sich koloniale Narrative zum Beispiel in Beschreibungen der Lebenswelten von Adressat*innen, die häufig mit kolonialen Attributen belegt wurden, indem sie als „fremd“ und „unzivilisiert“ dargestellt wurden. Auch in Kontexten der internationalen Zusammenarbeit innerhalb der Frauenbewegung und der Sozialen Arbeit trafen Rassismus und Kolonialismus nicht gerade auf Widerstand. Soziale Arbeit konstituierte sich vielmehr als weißer Raum, in dem eurozentrische Vorstellungen von sozialer Ordnung, Bildung, Arbeit und Familienleben handlungsleitend wurden.

Diese historischen Verflechtungen prägten die frühe Phase der Professionsentwicklung zutiefst. Daher ist es auch mit Blick auf die Gegenwart Sozialer Arbeit relevant danach zu fragen, wie dieses Verständnis von Sozialer Arbeit innerhalb der Profession tradiert wurde, ob und wie es gebrochen wurde bzw. welche Alternativen ihm entgegengesetzt wurden. Diesen Fragen geht das Alice Salomon Archiv der ASH Berlin gemeinsam mit dem Pestalozzi-Fröbel-Haus Berlin, den Universitäten Hildesheim und Marburg und der Hochschule Rhein-Main in einem BMBF-geförderten Forschungsprojekt mit einer Laufzeit vom 1.1.2023-31.12.2026 nach. Im Projekt geht es insbesondere darum, die Rolle der Berliner Sozialarbeitsinitiativen im deutschen Kolonialismus aufzuarbeiten und Formen der (Re-)Produktion kolonialen und rassistischen Wissens in historischen Quellen der frühen Sozialen Arbeit zu analysieren. Ein Herzstück der Studie bildet eine Reihe von Lehrforschungsprojekten, die in Studiengängen der beteiligten Hoch- und Fachschulen durchgeführt werden. Darin werden die Quellenstudien mit Erhebungen zur kolonialrassistischen Gegenwart in (Sozial-)Pädagogik und Sozialer Arbeit ergänzt und die Erkenntnisse dieser Untersuchungen zueinander in Beziehung gesetzt.

Publikationen

• Dayana Lau: Grenzgängerin zwischen den Disziplinen. Hilde Thurnwald und der „Kulturwandel“ als Grenzobjekt zwischen Ethnologie und Sozialer Arbeit. In: Cultura&Psyché 2022. doi: https://doi.org/10.1007/s43638-022-00049-9

Vorträge

• Wiebke Dierkes & Dayana Lau: „As you fasten your eyes on me […], you are truly beholding a rare, rare bird“ – Mary Church Terrell, Black Feminism and Counter-Narratives in the Discourse of early Social Work in Germany. Vortrag auf der European Conference of Social Work Resarch, Katholische Universität Mailand, 12.-14.4.2023 (Präsenz)

• "Heimatsart und deutsche Sitte" - Zur Vergangenheit und Gegenwart von Sozialer Arbeit als kolonialer Kulturarbeit. Vortrag in der Reihe "Postkoloniale Perspektiven - Koloniale Kontinuitäten. Aktuelle Forschungsergebnisse aus den Sozial-, Erziehungs- und Kulturwissenschaften - Universität Hildesheim, 24.5.2023, 17:00 (online)

Projektdaten

• Projektlaufzeit: 01.01.2023 bis 31.12.2026

• Projektleitung: Dr. Dayana Lau

• Projektpartner_innen:

o Sabine Sander und Silke Bauer, Pestalozzi-Fröbel-Haus Berlin

o Dr. Z. Ece Kaya, Universität Hildesheim

o Prof. Dr. Wiebke Dierkes, Hochschule Rhein-Main

o Prof. Dr. Susanne Maurer (i.R.), Universität Marburg

 

 

 

 

Die Zwillinge und Tante Ly: Ein Digitalisierungsprojekt zur Familiengeschichte Alice Salomons (2022-23)

Im Fokus des Projektes liegt die Aufarbeitung und Vermittlung des 2021/2022 im ASA eingetroffenen Familiennachlasses der Angehörigen Alice Salomons. Dieser Nachlass – welcher von der Familie teilweise persönlich ins Archiv gebracht wurde -  gibt nicht nur Auskunft über die Privatperson Alice Salomon, sondern gewährt auch Einblicke in die Geschichte jüdisch-bildungsbürgerlichen Lebens als Teil des kulturellen Erbes der Stadt Berlin.

Die Zwillinge Leonie Hepner (1896-1994) und Maria „Mieze“ Hepner (1896-1992), Nichten der frauenbewegten Sozialarbeitspionierin Alice Salomon, pflegten den Familiennachlass, dessen Dokumente weite Wegstrecken hinter sich brachten, bevor sie im ASA ihren finalen Platz fanden. Der Bestand dokumentiert die Geschichte der Familie Alice Salomons, die unter anderem in Berlin ansässig war und im Zusammenhang mit dem seit Beginn des 19. Jahrhunderts erstarkenden Antisemitismus und schließlich der nationalsozialistischen Machtergreifung aus Deutschland vertrieben wurde. Sie und ihre Verwandten ließen sich u. a. in der Schweiz, den USA, Großbritannien, Israel und Uruguay nieder.

Ergänzt wird dieser Bestand durch den Vorlass von Joachim Wieler. Seine Recherchen zu Salomons Leben im New Yorker Exil ermöglichten im Jahr 1983 erstmals die Publikation von Salomons Autobiographie "Charakter ist Schicksal" in Deutschland. Joachim Wielers Vorlass dokumentiert die Wiederentdeckung von Salomons Bedeutung für die Soziale Arbeit, die internationale Frauenbewegung und die Stadt Berlin. Insbesondere seine Interviews mit Salomons Zeitgenoss*innen, Verwandten und Mitstreiter*innen, für die er in den 1980er Jahren in die USA und nach England reiste, komplettieren das Bild Salomons und ihrer Familie.

Beide Bestände werden archivfachlich erschlossen und teildigitalisiert. Dies ist Voraussetzung, um sie erstmals (auch digital) für Stadtgesellschaft, Forschung und die interessierte Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Die Digitalisierung dient neben dem Bestandsschutz und der Zugänglichmachung auch der Vermittlung historisch relevanter Inhalte über unterschiedliche Formate. Neben der Präsentation der Metadaten und - wo möglich - der Digitalisate im META-Katalog des DDF und im Archiv-Portal-D, wird die Familiengeschichte über drei weitere Formate erzählt. Im Mittelpunkt der Vermittlung steht die virtuelle Ausstellung "Die Zwillinge und Tante Ly" in DDBstudio der Digitalen Deutschen Bibliothek. Die Ausstellung erzählt anhand des digitalisierten Archivguts aus dem Familien- und Berufsleben Alice Salomons und ihrer Nichten. In der berlinHistory App wird ein Themenlayer zur Geschichte der Sozialen Arbeit konzipiert. Dort werden Texte, Digitalisate und Audiodatein mit einer interaktiven Berlin-Karte verknüpft. Nutzer*innen können mit Hilfe der App z. B. ein biographisches Interview hören, während sie historisch bedeutsame Orte der erzählenden Person besuchen. Last but not least werden Projektergebnisse auf dem Webportal Jewish Places präsentiert. Die partizipative Website der Stiftung Jüdisches Museum Berlin macht jüdische Geschichte über eine interaktive Karte erlebbar.

Projektdaten

  • Projektlaufzeit: 15.08.2022 - 31.12.2023
  • Projektmitarbeiter_innen: Filiz Gisa Çakır (Projektleitung), Friederike Mehl, Pascal Paterna
  • Mittelgeber_in: Forschungs- und Kompetenzzentrum Digitalisierung Berlin (digiS)

Publikationen

 

 

Die Verflechtung innerer und äußerer Kolonisierung in der ‚weiblichen Kulturarbeit‘ – Eine intersektionale Analyse zur Geschichte der Sozialen Arbeit (seit 2020)

In der Untersuchung wird die ‚weibliche Kulturarbeit‘ in den Mittelpunkt gerückt und der Frage nachgegangen, wie soziale Projekte für Arme und Arbeiter*innen unter Beteiligung von Frauen mit der missionarisch geprägten und rassistisch grundierten Zivilisierungsarbeit in den Kolonien verbunden sind. Gleichzeitig geht es um die Frage, wie koloniale und missionarische Aktivitäten den Aufbau der frühen Sozialen Arbeit im deutschsprachigen Raum formten. Dabei wird davon ausgegangen, dass die kolonialen Verflechtungen der ‚weiblichen Kulturarbeit‘ sich in einer engen Verknüpfung von akribischer Erforschung und sittlicher Erziehung bei der ‚Zivilisierung‘ von Proletarier*innen und Kolonisierten zeigten. Frauen nahmen in dieser Verbindung eine besondere Rolle ein, da ihnen die Fähigkeit zugeschrieben wurde, sich verstehend Zugang zu fremden Lebenswelten zu verschaffen und als Vorbilder und Vermittlerinnen deutscher, bürgerlicher Tugenden wirksam zu werden. Insofern nimmt das Projekt die Konzeptionen ‚sittlicher‘ Erziehungsarbeit in den sogenannten ‚Außenposten der Zivilisation‘ in Metropole und Kolonie in den Blick und widmet sich gleichzeitig der Frage, wie in diesem Zusammenhang Wissen über die Lebenswelten der zu Zivilisierenden generiert wurde.

a) Personelle Verflechtungen: Soziale Hilfsarbeit und koloniales Engagement in den Frauenbewegungen

In dieser Teilstudie stehen in der Frauenbewegung aktive Frauen und ihre Organisationen und Netzwerke im Mittelpunkt. Diese haben die ‚weibliche Kulturarbeit‘ des Kaiserreichs und der Weimarer Republik definiert und praktiziert und in diesem Kontext – so die These – Verbindungen zwischen sozialem und kolonialem Engagement von Frauen hergestellt. Zu den relevanten Personen zählt z.B. [klick] die rechtskonservative Hedwig Heyl. Sie war viele Jahre Vorsitzende im Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft und hat den Berliner Verein Jugendheim gegründet, der auch ein sozialpädagogisches Seminar hatte (Walgenbach 2005). Dieses Jugendheim wurde sogar in das koloniale Lüderitzbucht (Namibia) übersetzt (Heyl 1925). Aber es waren nicht nur Frauen aus dem rechten Flügel, sondern auch radikale Aktivistinnen [klick] wie Minna Cauer auf diesem Gebiet aktiv. Cauer hat sich ebenfalls in der kolonialen Bewegung engagiert und sich parallel in die damals so genannte weibliche Hilfsarbeit eingebracht (Wildenthal 2001). In dieser Teilstudie geht es vor allem darum, diese Netzwerke und Verflechtungen freizulegen.

b) Materiale Verflechtungen: Koloniale Diskurse und Praktiken in Initiativen ‚weiblicher Kulturarbeit‘

In dieser Teilstudie sollen konkrete sozialpädagogische Initiativen der Frauenbewegung auf ihre Bezüge zu kolonialen Diskursen und Praktiken untersucht werden. Ein Beispiel dafür sind die [klick] Berliner Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit, die nicht-konfessionelle Heime für alleinstehende Arbeiterinnen gegründet haben, in denen sie – angelehnt an die Settlementbewegung – Bildungsprojekte initiierten (Feustel 2020). [klick] „Was bewog uns im Jahre 1899 zur Gründung des Vereins? Der Wunsch, der Fabrikarbeiterin zu dienen! [… Wir wollten den Arbeiterinnen] zu einem besseren, gesünderen, reicheren Leben verhelfen. Wir wußten, daß sie nicht aus eigener Kraft sich zu einer höheren Lebenshaltung, die ihnen ja noch fremd war, entwickeln konnten. Drum hielten wir, denen es besser ging, es für unsere Pflicht, tatkräftige Hilfe ihnen angedeihen zu lassen.“ (Kirschner 1929, S. 27) Diese Projekte sollen daraufhin betrachtet werden, wie sie koloniale Diskurse und Praktiken aufgenommen und (re)produziert haben, zum Beispiel indem sie christlich-missionarische Deutungsmuster adaptierten, aber auch, welche Bedeutung Frauen als Adressat*innen zugeschrieben wurde. Meine vorläufige These ist, dass sich so der Anspruch der Sozialen Arbeit der Frauenbewegung als Zivilisierungsarbeit deuten lässt.

c) Epistemische Verflechtungen: ‚Weibliche Ethnographie‘ zwischen Völkerkunde, Kolonialpolitik und Sozialer Arbeit

Mit der dritten Teilstudie richte ich meinen Blick auf die Wissensproduktion innerhalb der Sozialen Arbeit. Ich gehe davon aus, dass sich in diesem Zusammenhang Verbindungslinien zwischen der Ethnologie, die damals noch die kolonialpolitisch geprägte Völkerkunde war, der Frauenbewegung und der Sozialen Arbeit ergeben haben. Ein Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass die ersten Sozialarbeitsforschungen der 1910er bis frühen 1930er Jahre ethnographische Methoden entwickelt und genutzt haben. Beispiele dafür sind die empirischen Forschungen von Marie Baum, Marie Bernays, Rosa Kempf und Alice Salomon, die alle einige der ersten sozialen Frauenschulen geleitet haben (Hoff 2012). Hinzu kommt, dass Sozialarbeiterinnen sich aber auch in der Völkerkunde engagiert und damit Verbindungen zwischen den beiden Disziplinen geschaffen haben. Zu ihnen gehören zum Beispiel [klick] Caecilie Seler-Sachs, [klick] Gertrude Duby-Blom und [klick] Hilde Thurnwald. Meine These ist, dass diese Forscherinnen in ihren ethnologischen Studien sozialpolitische Fragen, die im Kontext der Frauenbewegung diskutiert wurden, mit kolonialpolitischen Fragestellungen der Völkerkunde verbunden haben. D.h., hier stehen die Forschungen im Mittelpunkt der Untersuchung.

Projektdaten:

  • Finanzierung: Haushalt
  • Projektmitarbeiterin: Dayana Lau
  • Laufzeit: seit 05/2020

Kontakt:

Dayana Lau

 

 

„Der Anfang meiner Forschungstätigkeit hier an der Fachhochschule war ganz klar die Frage: Was war hier 1933 geschehen?“ Ein Oral History-Projekt zum Einfluss sozialer Bewegungen auf die Historiographie Sozialer Arbeit (seit 2020)

In diesem interdisziplinären Forschungsprojekt werden die Auswirkungen der Neuen Sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre auf die Historiographie der Sozialen Arbeit in Deutschland untersucht. In einer Reihe von Oral History-Interviews erfragen wir Biografie und persönliche Motivation jener Sozialarbeiter*innen und Historiker*innen, die seit den 1970er Jahren die Geschichte der Sozialarbeit erforscht und Sammlungen und Archive der Sozialarbeit aufgebaut haben. Das Projekt untersucht insbesondere, wie die Neuen Sozialen Bewegungen, v.a. die Frauenbewegung, die archivarische Sammlung, Analyse und Interpretation der Geschichte der Sozialarbeit im 20. Jahrhundert hervorbrachten, beeinflussten und problematisierten.

Projektdaten:

  • Finanzierung: Haushalt
  • Projektmitarbeiter*innen: Dayana Lau, Friederike Mehl
  • Laufzeit: seit 02/2020

Kontakt:

Friederike Mehl, Dayana Lau